DIE SCHATTENSEITEN DES KORREKTURLESENS
Aufgrund von kürzlich eingeführten Qualitätssicherungs-Normen in der Übersetzer-Branche, verlangen viele Anbieter von Übersetzungs-Dienstleistungen, dass Übersetzungen von einem zweiten Übersetzer, systematisch Korrektur gelesen oder sogar bearbeitet werden; eine Methode, die heutzutage als nötig betrachtet wird, um die Übersetzungsqualität zu sichern. Das Korrekturlesen durch eine andere Person ist aber nur sinnvoll und hilfreich, wenn diese auch wirklich kompetent ist und das Korrekturlesen oder die Überarbeitung eines Textes richtig durchgeführt wird. Darüber hinaus lohnt sich Korrekturlesen nicht immer: Man nimmt sich extra Zeit, hat einen großen Aufwand, ganz zu schweigen von den Kosten, die ein Korrektor verursacht. Erschwerend kommt noch hinzu: wenn die Korrektur nicht gründlich genug ist oder sogar falsch ist und vielleicht Fehler in die Übersetzung einbaut, die vorher nicht da waren, kann die Qualität der Übersetzung darunter leiden.
WIE ERREICHT MAN EINE HERVORRAGENDE ÜBERSETZUNGSQUALITÄT?
Es wurde viel über die positiven Verdienste, die Korrektoren einbrachten, aber auch über die Missgeschicke, die passieren, berichtet. Korrekturlesen ist eine Tätigkeit, bei der ein zweiter Übersetzer die Übersetzung mit dem Ausgangstext vergleicht und korrigiert. Man nennt das auch Korrigieren oder Überarbeiten einer Übersetzung. Man ist sich fast unisono darüber einig, dass Korrekturlesen nötig ist, um eine gute Qualität der Übersetzung zu sichern; man geht auch davon aus, dass Korrekturlesen systematisch gemacht werden solle, egal welches Dokument übersetzt wurde oder welcher Übersetzer die Arbeit gemacht hat.
Dies ist wirklich eine interessante Entwicklung. Es sieht so aus, als müssten sich nur Übersetzer regelmäßig von Zweitpersonen auf die Finger schauen und ausbessern lassen – andere Berufssparten bleiben von dieser Maßnahme dagegen verschont; diese Tatsache sollte uns allerdings zu denken geben. Architekten dürfen Gebäude entwerfen, Mediziner dürfen Rezepte verschreiben und Buchhalter dürfen ihre Bücher führen, ohne dass ein Kollege sie überprüfen muss, der dann entscheidet, ob sie eine gute Arbeit geleistet haben, oder ob man nicht doch lieber eingreifen sollte. Architekten und Co. kann man vertrauen, Übersetzern hingegen lieber nicht. Wenn man aber schon dem ersten Übersetzer nicht trauen kann, warum kann man dann einem zweiten Übersetzer oder Korrektor bzw. Lektor vertrauen?
Für viele Übersetzungsagenturen versteht es sich von selbst, dass Korrekturlesen oder Überarbeitung der Texte angeboten wird. Das wird deutlich ersichtlich, wenn man sich ihre Homepages durchliest: „Alle Übersetzer werden durch einen zweiten Fachkollegen kontrolliert, um höchste Qualität zu gewährleisten“; Vier Augen sehen mehr als zwei, deshalb wird jede Übersetzung von einer zweiten Person durchgesehen – so können wir Qualität garantieren“; „Dank unseres Prinzips: Vier Augen sehen mehr als zwei, können wir Ihnen höchste Übersetzungsqualität garantieren“; solche und ähnliche Aussagen finden sich auf vielen Websites von Übersetzungsagenturen. Diese Agenturen haben anscheinend eine Patentlösung für hohe oder sogar perfekte Qualität gefunden: die Arbeit des ersten Übersetzers wird einfach von einer zweiten fachkundigen Person korrigiert!
Bei dieser neuen Qualitätssicherungs-Norm wird hinsichtlich der Art der Dokumente keine Unterscheidung gemacht – egal wie wichtig, heikel, kompliziert oder banal sie sind – und die Norm gilt auch für alle Übersetzer, egal wie erfahren oder kompetent sie sind. Diese generalisierende Korrigier-Regel „alle müssen in das Raster passen“ führt dazu, dass alle Übersetzungen über einen Kamm geschoren werden. Die Arbeit eines Übersetzers mit langjähriger Erfahrung, fundiertem Wissen in der Ausgangssprache und Fachwissen auf den Gebieten, aus denen er übersetzt, muss also systematisch von jemand anderem überprüft werden, so wie die Arbeit eines Neulings am Übersetzer-Himmel.
Viele Übersetzer empfinden dieses Denken sicher als herabwürdigend und zwar auch durchaus gutem Grund, da solch eine Herangehensweise an die Arbeit der Übersetzer in erster Linie zwei Dinge impliziert: Erstens, der Übersetzer beherrscht die Ausgangssprache oder das Themengebiet des Textes nicht gut genug; Zweitens, der Übersetzer ist nachlässig und könnte etwas auslassen bzw. überarbeitet und korrigiert seinen Text ja vielleicht auch gar nicht mehr.
Aber so sah die Situation für Übersetzer nicht immer aus. Bei internationalen Organisationen war es gang und gäbe, dass Übersetzer, die schon lange im Geschäft waren, sogenannte Senior-Übersetzer, die Arbeit ihrer jüngeren Kollegen, den sogenannten Junior-Übersetzern, korrigierten; ihre eigenen Übersetzungen hingegen wurden nicht mehr überprüft. Zweifelsohne gibt es heute immer noch Firmen und Unternehmen, die auf diese Weise arbeiten.
DIE NEUE QUALITÄTSSICHERUNGS-VORSCHRIFT
Die neue Qualitätssicherungs-Vorschrift hängt mit kürzlich eingeführten Qualitätssicherungsnormen in der Übersetzer-Branche zusammen, in Europa ist das hauptsächlich die EN 15038 und in den USA die ASTM F 2575. Anbieter von Übersetzungs-Dienstleistungen, die angeben, sich an diese Richtlinien zu halten, oder auch dazu verpflichtet werden, brauchen eine zweite Person, die ihre Übersetzung mit dem Ausgangstext vergleicht, und zwar jeden Satz und jeden Begriff, damit gewährleistet wird, dass die Arbeit fehlerfrei und qualitativ hochwertig ist. Aber laut dem ASTM F 2575 Standard aus den USA ist das Korrekturlesen nicht verpflichtend, da der, der die Anfrage stellt, der sogenannte „Antragsteller“ und der Übersetzungs-Dienstleister gemeinsam entscheiden können, ob sie einen Korrektor haben wollen oder nicht. Der US-amerikanische Standard besagt darüber hinaus aber, dass die Übersetzung „unter Umständen nicht mehr die gleiche Qualität hat, wenn man den Schritt der Überprüfung durch einen Dritten auslässt“.