MAX-PLANCK-INSTITUT NUTZT SYRISCHE FLÜCHTLINGE ALS "VERSUCHSKANINCHEN" BEI SPRACHLERN-EXPERIMENTEN
03.02.2024 | von Evarella
SYRISCHE FLÜCHTLINGE ALS VERSUCHSKANINCHEN DER SPRACHWISSENSCHAFT
In einem bahnbrechenden Experiment nutzte das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig syrische Flüchtlinge als Versuchskaninchen, um die neurologischen Veränderungen beim Erlernen einer neuen Sprache zu entschlüsseln. Ein intensives Deutschlernprogramm wurde gestartet, und die Gehirne der Teilnehmer wurden mit hochauflösender Magnetresonanztomographie (MRT) unter die Lupe genommen.
Dabei war das Ziel nicht nur, die Fähigkeit der Flüchtlinge zur Kommunikation in einer neuen Umgebung zu verbessern, sondern auch, die tiefgreifenden Veränderungen in den neuronalen Verbindungen des Gehirns während des Lernprozesses zu verstehen.
REVOLUTIONÄRE GEHIRNBILDER DURCH TRAKTOGRAPHIE
Die Wissenschaftler des Instituts nutzten die Traktographie-Technik, um hochauflösende MRT-Bilder in verschiedenen Phasen des Lernprozesses aufzunehmen. Die detaillierte Analyse dieser Bilder enthüllte faszinierende Veränderungen in den neuronalen Verbindungen der Sprachverarbeitungsbereiche im Gehirn.
Die Studie legte den Fokus nicht nur auf die Veränderungen in der linken Gehirnhälfte, die traditionell als für die Sprachverarbeitung verantwortlich gilt, sondern auch auf die überraschende Beteiligung zusätzlicher Regionen in der rechten Hemisphäre. Diese Entdeckung wirft ein neues Licht auf die Dynamik des Sprachenlernens und zeigt, dass die rechte Hemisphäre aktiv in den Prozess eingebunden ist.
DYNAMISCHE KONNEKTIVITÄT: EIN TANZ DER GEHIRNHEMISPHÄREN
Ein spannender Aspekt der Studie war die Beobachtung dynamischer Veränderungen in der Konnektivität zwischen den Spracharealen. Während des Spracherwerbs zeigte sich nicht nur eine Stärkung der Verbindungen in der linken Gehirnhälfte, sondern auch eine erstaunliche Beteiligung zusätzlicher Regionen in der rechten Hemisphäre.
Diese dynamische Konnektivität nahm mit dem Fortschritt im Lernprozess zu, insbesondere in der Konsolidierungsphase. Diese Phase markierte nicht nur die Vertiefung des Gelernten, sondern auch die effiziente Integration der neuen Sprache in den Denkprozess der Lernenden.
HEMISPHÄRISCHER DIALOG: KONTROLLE UND FREIHEIT
Ein faszinierender Aspekt dieser Studie offenbarte eine Reduzierung der Konnektivität zwischen den beiden Gehirnhälften, die über den Gehirnbalken verbunden sind. Dies deutet darauf hin, dass die linke Hemisphäre während des Zweitspracherwerbs weniger Kontrolle über die rechte Hemisphäre ausübt. Dadurch entstehen Ressourcen in der rechten Gehirnhälfte, die gezielt für die Integration der neuen Sprache genutzt werden.
Die Forscher erklären dieses Phänomen als einen "Hemisphärischen Dialog", bei dem die sprachdominante linke Hemisphäre bewusst einen Teil der Kontrolle über die rechte Hemisphäre freigibt. Dies ermöglicht der rechten Hemisphäre, ihre kreativen und kognitiven Ressourcen für den Erwerb der neuen Sprache zu nutzen. Es ist, als ob das Gehirn eine effektive Arbeitsteilung zwischen den Hemisphären entwickelt, um die Herausforderungen des Sprachenlernens zu bewältigen.
GOETHE-INSTITUT ALS RICHTUNGSWEISER
Die dynamischen Veränderungen in der Gehirnkonnektivität korrelierten direkt mit dem Lernfortschritt im Sprachtest des Goethe-Instituts. Dies unterstreicht die essenzielle Rolle neuroplastischer Anpassungen und die Nutzung bisher ungenutzter Regionen in der rechten Hemisphäre.
Die Teilnehmer, die eine stärkere Verringerung der Konnektivität zwischen den Hemisphären zeigten, schnitten auch in den Sprachtests schlechter ab. Dies legt nahe, dass die gezielte Freisetzung von Ressourcen in der rechten Hemisphäre eine entscheidende Rolle für die erfolgreiche Integration der neuen Sprache spielt.
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT DER SPRACHWISSENSCHAFT
Diese wegweisende Studie, als eines der ersten Projekte, das die Gehirnveränderungen beim Zweitspracherwerb dokumentiert, eröffnet neue Perspektiven für das Verständnis der Gehirnfunktion und der strukturellen Plastizität. Die Erkenntnisse können nicht nur auf den Spracherwerb anwendbar sein, sondern auch auf das Verständnis anderer kognitiver Prozesse und deren neuronaler Grundlagen.
Darüber hinaus hat das Sprachlernprojekt den Menschen aus Syrien nicht nur die Möglichkeit eröffnet, schneller und effizienter Deutsch zu lernen, sondern auch einen Weg für zukünftige Integrationsstrategien aufgezeigt. Die Erkenntnisse könnten als Grundlage für innovative Lehrmethoden und neurologisch basierte Ansätze für den Sprachunterricht dienen.
Insgesamt liefert die Studie nicht nur faszinierende Einblicke in die komplexen Prozesse des Sprachenlernens, sondern trägt auch dazu bei, die Brücke zwischen Neurowissenschaften und Bildung zu schlagen. Der Blick in die Zukunft verspricht ein tieferes Verständnis der adaptiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und könnte bahnbrechende Veränderungen in der Art und Weise, wie wir Sprachen lehren und lernen, herbeiführen.
Quelle: Originalpublikation: Xuehu Wei, Thomas C. Gunter, Helyne Adamson, Matthias Schwendemann, Angela D. Friederici, Tomás Goucha, Alfred Anwander: „White matter plasticity during second language learning within and across hemispheres“, in: PNAS, Vol. 121, Nr. 2 (doi.org/10.1073/pnas.2306286121).